Keynote: Vom Flickenteppich zur Infrastruktur – Antidiskriminierungsberatung in Deutschland weiterdenken
Vom Flickenteppich zur Infrastruktur – Antidiskriminierungsberatung in Deutschland weiterdenken
Keynote - Fachtag Antidiskriminierungsberatung der ADS Bund: Vom Rat zur Tat, Nov 2017
Die zweite Keynote des Tages hielt Daniel Bartel vom Antidiskriminierungsverband Deutschland (advd), der aus der Perspektive nicht-staatlicher Antidiskriminierungsberatungsstellen sprach.
Die vorangegangenen Redner_innen und Beiträgen hätten klar benannt, dass die Unterstützung von Menschen, die Diskrimierung erleben, ein zentraler Bestandteil einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft sei. Ebenso sei deutlich geworden, dass es fachlich ausdifferenzierte Beratungskonzepte gäbe, die sich in der Praxis bewährt haben. Um dies noch zu unterstreichen zeigte er einen 3-minütigen Erklärfilm des advd, der Ratsuchende stärken soll und das Unterstützungsangebot der Mitgliedsorganisationen des advd vorstellt.
Die Einsicht in die Notwendigkeit eines Unterstützungsangebotes und die konkreten Erfahrungen mit Antidiskriminierungsberatung seien die Fortschritte der letzten Jahre. Wir seien allerdings noch nicht am Ziel. Vielmehr stelle sich nun die Frage: Wie sieht die Beratungslandschaft tatsächlich aus und wer hat die Möglichkeit, diese Beratungsangebote faktisch zu nutzen?
Seine Antwort sei sehr ernüchternd: Aktuell haben Betroffene weit überwiegende keinen Zugang zu einer professionellen Unterstützung. Es gibt keine flächendeckende Beratungsstrukturen. Deshalb sei es aus Sicht von Daniel Bartel auch inhaltlich falsch von Leerstellen zu sprechen, die noch zu schließen seien, denn das suggeriere deutlich mehr an Substanz als faktisch existiere. Nicht die Lücke sei die Ausnahme, sondern das Vorhandensein einer Beratungsstelle.
Diese Realität einer massiven strukturellen Unterversorgung werde aktuell viel zu selten gesehen und adressiert. Sowohl bei politischen Verantwortungsträger_innen als auch in der Öffentlichkeit und zum Teil auch bei Betroffenen herrsche ein stark idealisiertes Bild vor. Dies sei vergleichbar etwa mit der Diskrepanz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit bezüglich der Gesundheitsversorgung. Diese erscheine vielen solange als gut oder ausreichend bis sie selbst Bedarfe haben und dann beispielsweise feststellen müssten, dass sie auf eine psychotherapeutische Unterstützung sechs Monate oder länger warten müssten.
Daniel Bartel versuchte im Folgenden, das Verhältnis von Beratungsbedarf und existierender Beratungsstruktur durch einen Fact-Check auszuleuchten. Er berief sich dabei auf die vorhandenen Zahlen. Da diese nicht umfassend zu erheben seien, wäre zum Teil auch eine informierte Schätzungen nötig.
In der Summe geht Herr Bartel von bundesweit 60 bis 80 Vollzeitstellen im Bereich der Antidiskriminierungsberatung aus. (In den zwanzig größten Städten (Berlin, Hamburg bis Münster) gäbe es kumuliert das Äquivalenz von knapp 25 Vollzeit-Berater_innenstellen.)
Diese Zahl sei wohlwollend und überschätze tendenziell das tatsächliche Angebot. Einbezogen seien additiv alle Personalstellen (staatlich und zivilgesellschaftlich auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene), in denen Berater_innen nach einem Konzept, explizit und regelmäßig Einzelfallberatung in Diskriminierungsfällen anbieten. Das Verständnis von Antidiskriminierungsberatung sei für diese Erfassung breiter gehandhabt worden als in den Fachstandards des advd definiert.
Nicht berücksichtigt seien ehrenamtlich Aktive und Berater_innen etwa in der offenen Jugendarbeit, Migrations- oder Frauenberatung, die Antidiskriminierung als wichtiges Querschnittsthema ihres fachlichen Tuns verstehen. Die Ausdifferenzierung zwischen Antidiskriminierung als Kern- bzw. Querschnittsthema sei fachlich notwendig. Als Analogie nutzte Daniel Bartel das Thema Kindeswohl: Dies sei ein wichtiges Querschnittsthema in allen Bereichen der Sozialen Arbeit und für viele Beratungsstellen, aber es wäre fachlich problematisch deshalb auf spezialisierte Beratungsangebote zu verzichten. Der Unterstützungsbedarf im konkreten Fall könne von Beratungsstellen mit einem Querschnittsmandat weder inhaltlich noch ressourcenmäßig geleistet werden. Ähnlich verhielte es sich bei ehrenamtlichen Angeboten, die für Betroffene in der Praxis oftmals wichtig seien, aber bezüglich Kapazität, Kontinuität und Qualitätssicherung regelmäßig an Grenzen stoßen.
60 bis 80 Berater_innenstellen mit Antidiskriminierung als Kernthema bedeutet eine Stelle auf 1 bis 1,5 Millionen Einwohner_innen. Zum Vergleich: Im Bereich der Erziehungs- und Familienberatung kommt eine Berater_innenstelle auf etwa 20.000 Einwohner_innen, in der Psychotherapie eine Therapeut_innenstelle auf 2.000 (in Ballungsgebieten) bis 6.000 Einwohner_innen (ländlicher Raum).
Um diese Zahl weiter einzuordnen, stieg Herr Bartel tiefer in die Beratungspraxis ein. Ein Beratungsfall nehme durchschnittlich etwa 15 Stunden in Anspruch (vom Erstkontakt bis Abschluss). Gehe mensch idealtypisch davon aus, dass ein_e Berater_in etwa drei Viertel der Arbeitszeit an konkreten Fällen arbeite, so könne sie_er etwa 1.200 Stunden pro Jahr darauf verwenden. In absoluten Zahlen sind das circa 80 Fälle pro Jahr und Berater_in. Bei bundesweit 80 Personalstellen bedeute das rein rechnerisch, dass jedes Jahr 6.400 Fälle bearbeitet werden können.
Welcher Bedarf steht dem gegenüber? In der Repräsentativbefragung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gab 2015 jede dritte Person (über 14 Jahre) an, innerhalb der letzten beiden Jahre mindestens eine Diskriminierung erlebt zu haben. Das sind in absoluten Zahlen 27 Millionen Menschen. Diesen 27 Millionen Menschen stehen für den Zeitraum von zwei Jahren 12.800 Beratungsplätze zur Verfügung (6.400 pro Jahr). „In anderen Worten: 0,05 Prozent oder jede zweitausendste betroffene Person hat theoretisch die Möglichkeit, eine Beratung in Anspruch zu nehmen.“, so Daniel Bartel. „Ich sage nicht, dass jeder Menschen, der Diskriminierung erlebt, eine Beratung sucht oder braucht, aber dieses Verhältnis ist nicht angemessen und bleibt deutlich hinter dem zurück, was notwendig ist.“ Eine konkrete Zahl könne er nicht nennen, dies sei Teil einer Diskussion, die jetzt zu führen sei.
An dieser Stelle schlug Daniel Bartel den Bogen zum Beginn seines Beitrags: Es scheine Einigkeit darüber zu bestehen, dass die Auseinandersetzung mit Benachteiligungen und die Unterstützung von Betroffenen von Diskriminierung eine wichtige Aufgabe ist - Herr Staatssekretär Dr. Kleindiek habe in diesem Zusammenhang vom Markenkern der Demokratie gesprochen. Zusätzlich verfügten wir über ausgereifte Beratungskonzepte und Praxiserfahrungen.
Nun sei es an der Zeit, Antidiskriminierungsberatung tatsächlich in die Fläche zu bringen. Betroffene müssen die Möglichkeit erhalten niedrigschwellig und wohnortnah eine qualifizierte Unterstützung zu finden, um ihr Recht auf Teilhabe und Gleichbehandlung zu leben. Dafür braucht es die Auseinandersetzung um die Frage wie eine bedarfsgerechten Versorgung aussehen kann und wie die notwendigen Strukturen aufgebaut werden können.
Abschließend formulierte Bartel einen Wunsch: Er freue sich auf eine spannende Fachtagung und hoffe, dass die Beratungslandschaft bis zur nächsten Veranstaltung dieser Art bundesweit auf mindestens 200 Stellen wachsen würde. „Dann würde zumindest jeder tausendsten Menschen, der eine Diskriminierungserfahrung macht, ein Beratungsangebot nutzen können.“